Polio-Spätfolgen - Welche Gymnastik? Allgemeinrezepte
kann es nicht geben Möglichst erhalten was an Kraft und Funktion vorhanden
ist. Darauf muß die Physiotherapie bei Personen mit chronischen und sekundären
Schäden infolge einer früheren Polioerkrankung konzentriert sein. Training zur
Verbesserung der Ausdauer ist außerordentlich wichtig. Dagegen
kann Training zur Kraftsteigerung, gar wenn es forciert wird, mehr schaden als
nutzen und sollte unbedingt fachärztlich überwacht werden. Schmerzen
an Wirbelsäule, Gelenken, Sehnenansatzpunkten und in den Muskeln, verursacht vor
allem durch die Auswirkungen veränderter Statik und lange bestehende Fehlhaltungen
und Fehlbelastungen, sind meist der Anlaß, den Arzt aufzusuchen. Aber auch ungewöhnliche
Müdigkeitsattacken und rasche Erschöpfung bei körperlichen und seelischem Streß
sowie unvermutet auftretende neue Muskelschwächen kristallisieren sich Jahrzehnte
nach der Erkrankung mit oder ohne erkennbare Lähmungsfolgen als Anzeichen für
das sogenannte Post-Polio-Syndrom (PPS) heraus. Wenn Spätfolgen
der Infektionskrankheit "Spinale Kinderlähmung (Poliomyelitis)" dem angesprochenen
Arzt bekannt sind und nach sorgfältiger Abklärung andere Krankheitsursachen nicht
vorliegen, wird er als erstes raten, langsamer zu treten und tagsüber öfter kurze
Pausen zu machen. Als nächstes müssen Reizzustände am Bewegungsapparat behandelt
und eventuell zur Entlastung in Anspruch genommen werden. Sofort eine Kur zu verordnen
hat nur Sinn, wenn in der betreffenden Klinik Erfahrungen mit PPS-Patienten vorliegen
oder man dort auf medizinischer Seite bereit ist, sich mit der (meist englischen)
Fachliteratur über Spätfolgen der Polio ernsthaft zu befassen. Daran mangelt es
im deutschen Sprachraum sehr. Und in der Medizinerausbildung und an Krankengymnastik-Schulen
wird kaum oder überhaupt nicht von einem Krankheitsbild Notiz genommen, das allein
in Deutschland auf weit über zehntausend Personen in Altersgruppen von Mitte Dreißig
aufwärts zutreffen dürfte. Erst die 1961 begonnenen Schutzimpfungen machten den
Massenerkrankungen ein Ende. Vorbeugen durch regelmäßige ambulante
Physiotherapie mit gezielten passivem und aktivem Durchbewegen von Muskulatur
und Gelenken, dazu jährlich ein drei- bis vierwöchiger Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung
wäre, so Dr. Thomas Lehmann (Bern), die wirksamste Behandlung. Sie wurde bei vielen
bereits versäumt. Das zeigt ein Vergleich zwischen dem Gros der jetzt von Spätfolgen
geplagten und einer Gruppe Polios, die unter erfahrener ärztlicher Kontrolle ihre
körperlichen Probleme über Jahre wahrnahmen und lösen ließen. Nur wenige erfuhren
entscheidende Arbeits-, Freizeit- und Gesundheitseinbußen. "Nicht
trotz sondern mit der Behinderung leben" - dieses Motto von Sunny Roller am Klinikum
Ann Arbor (Michigan, USA), die jetzt ganz auf den Rollstuhl angewiesen ist, erleichtert
die unumgängliche Anpassung der Lebensweise von Menschen mit Polio-Spätfolgen
ungemein. Das bedeutet: Das Tagesprogramm gut planen, immer wieder Ruhepausen
einlegen, Hast vermeiden, körperliche Leistungsgrenzen rechtzeitig respektieren,
in aufregenden Situationen möglichst innere Ruhe bewahren. Die
von Natur aus leistungsorientierten und gerne spontan handelnden Polios wehren
sich anfangs dagegen, wollen sich nicht in ein "Aktivitäten-Korsett" zwingen lassen.
Auf Vorschläge, Hilfsmittel zu nutzen, reagieren sie meist reserviert. Hatte man
doch nach oft jahrelanger Plackerei im Anschluß an die Erkrankung Stock, Schiene
oder Rollstuhl vielleicht ganz in die Ecke stellen können! Aber jetzt gebietet
einfach die Vernunft, sich je nach Lage des Falles mit orthopädischen Hilfsmitteln,
vor allem aber regelmäßiger Physiotherapie wieder anzufreunden. Auch eine mechanische
Atemhilfe für die Nacht kann notwendig werden, wenn im Schlaf der Gasaustausch
unzureichend ist und es zu einer schleichend fortschreitenden Unterbeatmung kommt.
Anzeichen dafür können hartnäckige morgendliche Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit
trotz ausreichender Nachtruhe, zunehmender Leistungsabfall und unerklärlicher
Bluthochdruck sein. Sport wurde für viele Polios ein nützliches
Hobby. Nur wurde oft zu wenig bedacht, welche Maßstäbe anzulegen seien. So mag
Überanstrengung in jenen Jahren, womöglich schon zu rigoroses Training unmittelbar
nach der Erkrankung, heutige neue Schwächezustände vorbereitet haben. Ihrer Defizite
in neuromuskulären Funktionen waren sich die meisten Polios vermutlich gar nicht
bewußt, wollten überdies Leistung und Können demonstrieren. Aber auch Ärzte und
Therapeuten hatten Schwierigkeiten, von der Erkrankung geschwächte Muskeln zu
identifizieren. Was beim herkömmlichen manuellen Test der Muskelkraft normal erschien,
erreichte bei quantitativer Messung im Forschungslabor u. U. nur 50%, manchmal
auch nur 20% der normalen Leistung. Die Beurteilung der Muskelkraft
verlangt vom Physiotherapeuten besondere Einfühlung und gründliches Beobachten.
Aufgrund ihrer Erfahrung schlägt M. Weiss (Canton, Ohio) den manuellen Kraft-
und Ausdauertest vor, der an einem bestimmten Muskel drei- bis viermal hintereinander
vorzunehmen ist. Der erste und der letzte Wert sind entsprechend einer Skala eins
bis fünf (nach Kendal) zu protokollieren. Geräte zur Leistungsmessung führen infolge
unwillkürlichen Einsatzes von Kompensationsmuskeln durch Probanden leicht zu Fehlmessungen.
Die z. B. für die Sportmedizin gültigen Leistungsgrade 1 bis 5 können für Polios
nicht herangezogen werden. (Stufe 1 entspräche 10%, Stufe 2 ca. 25%, Stufe 3 etwa
50% einer normalen Muskelleistung, was bedeutet, daß der Proband zum Ausführen
einer Bewegung das Gewicht des betreffenden Körperteils gegen die Schwerkraft
überwindet). Aber bei Poliopatienten funktioniert, wie Dr. Beasley 1961 ermittelte,
in einem Muskel der 3. Leistungsstufe nur 9,1%, in der 2. Stufe durchschnittlich
2,5% und in der Stufe 1 nur 1% der Muskelfasern. In der Stufe 4 sind es 42,5%,
in der Stufe 5 nicht wie erwartet, 100%, sondern zwischen 53,5% und 100%. Schwimmen
erwies sich auch jetzt als hilfreiche Bewegungsart, sofern die Arme kräftig genug
sind. Es ist zwei bis dreimal pro Woche für jeweils 20 bis 30 Minuten in Rücken
und Seitenlage, mit Kraulen und Gehen im Schwimmbecken bei Temperaturen nicht
unter 28 Grad Celsius und nicht über 33 bis 34 Grad Celsius angebracht. Der Nebeneffekt,
Stärkung von Herz- und Kreislauffunktionen, ist so besser als z. B. Jogging oder
einem Heimtrainer (falls dafür die Beinmuskulatur überhaupt kräftig genug ist)
zu erreichen. Vom Üben mit Maschinen ähnlich jenen in Fitness-Studios raten Polio-Therapeuten
meist ab, weil die unterschiedliche Leistungssituation der Muskeln eines Polio-Patienten
nicht berücksichtigt werden kann. Schwache Muskelgruppen werden leicht überfordert
und so zusätzlich geschwächt. Zur Unterstützung der Herz- und
Lungentätigkeit sind selbst bei den jetzt vorhandenen Einschränkungen modifizierte
Aerobic-Übungen möglich, wenn die Rumpfmuskulatur ausreichend funktionsfähig ist.
Zuvor ist jedoch zu klären, ob Arm- und Beinmuskulatur 20 Minuten Aktivität ohne
Leistungsabfall und Ermüdung vertragen und nicht mit Muskelkater reagieren. Hier
haben sich Intervallprogramme bewährt - d.h. nach zwei bis drei Minuten üben folgt
jeweils eine Pause von einer Minute. Allgemein gilt: Üben bzw. Aktivität bis zu
50% der größten individuellen Leistungskapazität darf nicht ermüden und keine
Schmerzen verursachen - weder an Gelenken noch an Muskeln. Das Ziel: Der Betreffende
sollte sich ohne außer Atem zu geraten, um einiges über den für das Alltägliche
erforderlichen Grad hinaus anstrengen können. Was der eine
ohne weiters bewältigt und seine Ausdauer steigert, kann jedoch den anderen völlig
überfordern. Dessen Pensum mag schon mit den alltäglichen Prozeduren der Toilette
am Morgen und Abend, An- und Auskleiden und notwendigen Verrichtungen tagsüber
erfüllt sein. Ihm könnte z. B. mehrmaliges Anspannen aller verfügbarer Muskulatur
und ausgiebiges Recken im Bett vor dem Aufstehen mit der Zeit etwas Kräftigung
verschaffen. Auch läßt sich die Badewanne recht gut als "Übungsraum" benutzen,
besonders dann, wenn ein an die Wasserleitung anschließbarer hydraulischer Lifter
vorhanden ist. Leichte Widerstandsübungen sind z. B. durch Anhängen eines bei
Kindern häufig gebrauchten Schwimmflügels mit geringer Luftfüllung an Fuß- oder
Handgelenk möglich. Kräftigungsübungen im Trockenen mit leichtem
Widerstand müssen nach Prof. Jacquelin Pery (Los Angeles) stets unterhalb der
größten Muskelleistungskapazität bleiben. Erreicht diese nur Stufe 3 oder weniger,
sind sie nicht angebracht. Falls undurchführbar, soll zur besseren Durchblutung
des Muskelgewebes mit kurzen kräftigen Anspannen (60 bis 70% der Leistungskapazität)
mit bis zu fünf Wiederholungen begonnen werden. Sobald das Üben leichter geht,
steigert man auf zehn Wiederholungen, gibt später noch etwas mehr Widerstand.
Dies erfordert Geduld, Beständigkeit und sorgfältiges Beobachten der Muskel und
Gelenkreaktionen seitens des Patienten und des Therapeuten. Drei
Regeln sind unbedingt zu beachten: Hat der Patient das Gefühl, das Üben tue ihm
gut - fortsetzen. Fühlt er sich schlechter - auf die Hälfte reduzieren. Fühlt
er sich auch dann noch schlecht - aufhören, sich etwas anderes überlegen. Perry
und Mitarbeiter machten die Erfahrung, dass dieses Programm 40% der Patienten
zu mehr Ausdauer bzw. Kraftgewinn um ½ Grad verhalf. Bei 30% gab es keine Veränderung,
bei weiteren 30% sogar eine Verschlechterung. Diese Gruppe beanspruchte die Muskulatur
schon durch die Alltagsaktivitäten bis zum äußerten. Auf Anhieb
vermag der Arzt oder Therapeut nicht zu sagen, ob Muskelschwäche und rasche Ermüdung
auf Unter- oder Überforderung zurückzuführen ist, ob muskuläre oder chronische,
generelle Müdigkeit vorliegt. Das Dilemma bei Personen mit alter Polio ist der
unsymmetrische Befall der großen Motoneuronen in den Vorderhörnern des Rückenmarks
und im Hirnstamm im Akutstadium der Erkrankung. Die völlige oder teilweise Zerstörung
solcher Zentren für die Impulsübertragung an Skelettmuskeln führte zur kompletten
oder teilweisen Lähmung der betreffenden Muskelgruppen. Durch Anpassungs- und
Kompensationsprozesse kamen dennoch bei zahlreichen Patienten mit dem Training
Muskelfunktionen teilweise sogar ganz zurück - wenn auch nicht im ursprünglichen
Leistungsgrad. Jetzt jedoch ist in Folge solcher Prozesse die Masse und Struktur
des Muskelgewebes - hinsichtlich Mengenverhältnis, Ansprechbarkeit und Stoffwechselverhalten
der Muskelfasertypen - gegenüber dem Zustand unmittelbar nach der Erkrankung z.
T. erheblich verändert. Deshalb ist vor Beginn einer Übungstherapie
langsames, vorsichtiges Herantasten an den realen Zustand so wichtig. Sie sollte
durch gezielte und langsame, nie ruckartige Dehnung, vielleicht kombiniert mit
gezielter Elektrotherapie, vorbereitet werden. Die Anwendung der "Propriozeptiven
Neuromuskulären Fazilitation" (PNF) mit so genannter Komplexbewegung spielt bei
Poliopatienten eine wichtige Rolle. Der um 1950 von dem amerikanischen Neurophysiologen
H. Kabat entwickelten, inzwischen erheblich modifizierten Methode liegt die Erkenntnis
zugrunde, dass jede Bewegung mehrere Komponenten hat und durch die ganze Bewegungsketten
stimuliert werden können. Dabei werden reizaufnehmende Organe und Zellen in der
Skelettmuskulatur, in Muskelsehnen und Gelenkkapseln ("Propriorezeptoren") eingeschaltet.
Auf diesem Wege lassen sich paretische (teilgelähmte) Muskelketten
aktivieren. Ursprünglich "für Gelähmte" entwickelt, wurden z. B. 1992 einige amerikanische
Olympiasportler wegen überanstrengter, geschwächter Muskeln und Gelenke mit dieser
Methode erfolgreich behandelt. Verfasserin: Gertrud
Weiss, Rosenheim |