Krankheitsbild
Die
Infektionskrankheit Poliomyelitis (Kinderlähmung) ist seit Einführung der Schutzimpfung
nach Dr. J. Salk (1955) und Dr. A. Sabin (1962) in den Industrieländern praktisch
erloschen. Das gilt aber nicht für wirtschaftlich weniger fortgeschrittene
Regionen, insbesondere in Asien und Afrika. Dort wurden lt. Weltgesundheitsorganisation
(WHO) 1998 noch 5867 Lähmungsfälle gemeldet - erfahrungsgemäß liegt die tatsächliche
Anzahl 5 - 6 mal höher. Das Ziel, die Polio bis zum Jahr 2000 weltweit auszurotten,
konnte nicht gehalten werden. Es wird eine Verzögerung um einige Jahre eintreten;
aber auch danach bedarf es noch jahrelang strikter Kontrollen. Hinzu kommt
die Ansteckungsgefahr für Touristen ohne ausreichenden persönlichen Impfschutz.
Wenn sie Krankheitserreger in Länder einschleppen, wo sich Impfmüdigkeit breit
gemacht hat oder Impflücken bestehen, kann es dort einzeln oder gehäuft erneut
zu Erkrankungen kommen. Das Schicksal der Polioopfer aus der Zeit vor
den Impfungen sollte Warnung genug sein. Die WHO schätzt die Zahl der
Menschen mit Behinderung infolge Polio weltweit auf 12 Millionen. In Deutschland
waren allein zwischen 1950 und dem Beginn der Massenimpfungen 1962 mehr als 55.000
an Polio erkrankt. Über die Zahl, auch bei den schon früher Betroffenen, sagen
die Statistiken jedoch nichts aus. Umfang und Lokalisierung der akuten
wie der Restlähmungen sind ganz unterschiedlich, ebenso die Beeinträchtigung der
Funktionen und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die große Mehrzahl der Betroffenen
fand Wege zu einem aktiven Leben - notfalls mit Hilfsmitteln und Assistenz. Dank
ihrer sprichwörtlichen Energie und ihres Lebensmutes können sie in der Welt der
Gesunden bestehen. Viele erreichten Erstaunliches im Beruf und im öffentlichen
Leben. Wenige Jahre nach der akuten Erkrankung, nach Rekonvaleszenz und
immer wieder hartem Training, galt ihr Zustand als stabil. Viele wurden Stöcke
und Schienen, mache sogar Rollstuhl und Beatmungsgerät los. Dann aber begann sich
das Blatt zu wenden. Nach 15 bis 20, vielleicht auch erst nach mehr als 30 Jahren
traten wieder Probleme auf - manche altbekannt, aber inzwischen vergessen oder
für die Betreffenden neu: · Schmerzen in Muskeln und Gelenken ·
Extreme Müdigkeit, rasche Erschöpfung bereits am Vormittag · Neue
oder zusätzliche Muskelschwächen · Schlafstörungen ·
Probleme beim Atmen und Schlucken Zunehmend Aufwachprobleme aus
der Vollnarkose, sofern bei Wahl und Dosierung der Narkosemittel die durchgemachte
Polio nicht berücksichtigt wurde. Ärzte wie auch die Umgebung reagierten
vielfach ungläubig auf die Schilderung der Betroffenen, dass sich ihr Zustand
verschlechtere. Zur früheren Erkrankung wollte man lange keine Verbindung sehen.
Verständlich, dass es häufig zu Fehldiagnosen und einer Odyssee durch Arztpraxen
kam. Gewöhnlich lautete die Erklärung "Alterserscheinungen" oder "psychisch
bedingt". Gewiss spielen früher und ausgeprägter bemerkbar. Aber erst in den letzten
Jahren bahnten sich Verständnis und Wissen um die "Spätfolgen der Poliomyelitis"
an, um die es sich nach klinisch gesicherten Polioerkrankung bei diesem wichtigsten
Phänomen handelt. "Spätfolgen" ist der Oberbegriff für die spezifischen
chronischen Schädigungen durch paralytische Polio (mit Lähmungserscheinungen).
Ursachen sind z. B. ständig wiederholte Belastungen, etwa der Handgelenke beim
Stock- und Krückengebrauch oder handbetriebenem Rollstuhl mit der Folge "Karpaltunnelsyndrom".
Kompensatorische und anomale Bewegungsabläufe können eine Fehlstellung bis zur
Verschiebung im Gelenk bewirken und mit der Zeit zu massiven Knorpelschäden mit
degenerativer Arthose führen. Häufig kommen Sehnenscheiden- und/oder Schleimbeutelentzündungen
sowie schmerzhafte Muskelverspannungen ect. hinzu. Eine Unterforderung
einzelner Muskelgruppen verschlimmert bestehende Atrophien. Mit gezielter, nicht
forcierter Gymnastik ist manches aufzuhalten, sogar zu bessern. Überlastung
im "Dauerbetrieb" vor allem der nach Schädigung in der Akutphase durch konsequentes
Training wieder aufgebauten "Ersatzsysteme" für den Komplex Nerv-Muskelfaser ist
jetzt gefährlich. Scheinbar erholte Muskeln geben langsam oder plötzlich ihren
Dienst wieder auf. Hier könnte konsequente, aber vorsichtige Gymnastik noch helfen.
Stoffelwechselprozesse könnten eine Rolle spielen. Die in einigen Klinikzentren
laufenden Studien lassen erkennen, dass auch multidisziplinär, mit Einschaltung
auch von Neurologen und Internisten, vorzugehen ist. Das "Post-Polio-Syndrom"
(PPS) ist eine Teilkategorie der Spätfolgen. Es wird als eine neurologische
Störung mit vermehrter Schwäche geschädigter, aber auch Schwäche scheinbar nicht
beeinträchtigter Muskeln definiert. Deshalb sind zur Diagnose zuallererst andere
Erkrankungen auszuschließen. Hauptmerkmal des Komplexes von Symptomen sind neue
Schwächen, ungewöhnliche Körpermüdigkeit und Muskelermüdung sowie Schmerzen. Die
Folge ist Verlust an Ausdauer und Funktion. Die Bezeichnung "Post-Polio-Syndrom
(PPS)" verdrängt immer mehr den Begriff "Polio-bedingte progressive Muskelatrophie
(PPMA)", wie in den 80iger Jahren die fortschreitende, therapeutisch nicht beeinflussbare
neue Schwäche und/oder Atrophie genannt wurde. Klinische oder subklinische Zeichen
für chronische partielle Denervation und Reinnervation lassen auf eine frühere
paralytische Poliomyelitis-Erkrankung schließen. Zum Schutz vor Fehldeutungen
ist jedoch die gründliche Anamnese, samt Periode der Stabilität dokumentiert,
überaus wichtig. Ein Sonderkapitel sind Lähmungsfolgen, wenn neben der
Bein- auch die Rumpfmuskulatur betroffen wurde. Im Laufe der Zeit kommt es zu
erheblicher Skelettverschiebung mit Beckenschiefstand und extremer Skoliose. Die
zunehmenden Atemschwierigkeiten, an denen auch funktionsbeeinträchtigte Teile
der Atemmuskulatur und des Zwerchfells beteiligt sind, werden hier und da als
"Asthma" abgetan - mit verheerenden Folgen. Die erwähnten sowie weitere,
inzwischen neu definierte PPS-Probleme können einzeln oder auch in unterschiedlicher
Kombination auftreten. Auch kann es sein, dass sie sich bisher nicht bemerkbar
gemacht haben. Sind die Schwierigkeiten aber da, ist es gut, wenn der Betreffende
um die mögliche Ursache weiß. Eine Heilung gibt es derzeit nicht. Umso
wichtiger ist es, den neuen Zustand in der gesamten Lebensweise zu berücksichtigen.
Das bedeutet: · Aktivitäten, Anstrengungen und Belastungen
(auch solche psychischer Natur) möglichst zurückzuschrauben · Informationen
einholen, am besten über die Selbsthilfegruppe, und Erfahrungen mit anderen Poliobetroffenen
austauschen · Eine gründliche allgemein-medizinische und neuro-muskuläre
Untersuchung bei einem polio-erfahrenen Arzt mindestens einmal jährlich durchführen
lassen · Auf den Körper "hören", Überlastungs- und Schmerzsignale
als Warnzeichen beachten. Ermüdung durch Anstrengung sollte nach 10 Minuten Pause
überwunden sein. Sobald allgemeine Müdigkeit oder Erschöpfung auftritt, Pausen
von 10 bis 30 Minuten einlegen. · Übergewicht reduzieren bzw. vermeiden
· Rauchen aufgeben, wenig Alkoholkonsum · Schmerzmittel,
Antidepressiva, Narkotika meiden, mehr Hilfsmittel (Orthesen, Stöcke, Rollstuhl
etc) auch im Haus benutzen. · Familie, Personen im Umfeld, evtl.
auch Angehörige von Heilberufen über die neuen Schwierigkeiten informieren, notfalls
aufklären und an Experten verweisen Verfasser: Wöbbeking/Sommer |