Selbsthilfegruppe für Personen mit Spätfolgen nach Kinderlähmung
(geg
ründet 1991)
 
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Krankheitsbild

 

Die Infektionskrankheit Poliomyelitis (Kinderlähmung) ist seit Einführung der Schutzimpfung nach Dr. J. Salk (1955) und Dr. A. Sabin (1962) in den Industrieländern praktisch erloschen.

Das gilt aber nicht für wirtschaftlich weniger fortgeschrittene Regionen, insbesondere in Asien und Afrika. Dort wurden lt. Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1998 noch 5867 Lähmungsfälle gemeldet - erfahrungsgemäß liegt die tatsächliche Anzahl 5 - 6 mal höher. Das Ziel, die Polio bis zum Jahr 2000 weltweit auszurotten, konnte nicht gehalten werden. Es wird eine Verzögerung um einige Jahre eintreten; aber auch danach bedarf es noch jahrelang strikter Kontrollen.

Hinzu kommt die Ansteckungsgefahr für Touristen ohne ausreichenden persönlichen Impfschutz. Wenn sie Krankheitserreger in Länder einschleppen, wo sich Impfmüdigkeit breit gemacht hat oder Impflücken bestehen, kann es dort einzeln oder gehäuft erneut zu Erkrankungen kommen.

Das Schicksal der Polioopfer aus der Zeit vor den Impfungen sollte Warnung genug sein.

Die WHO schätzt die Zahl der Menschen mit Behinderung infolge Polio weltweit auf 12 Millionen. In Deutschland waren allein zwischen 1950 und dem Beginn der Massenimpfungen 1962 mehr als 55.000 an Polio erkrankt. Über die Zahl, auch bei den schon früher Betroffenen, sagen die Statistiken jedoch nichts aus.

Umfang und Lokalisierung der akuten wie der Restlähmungen sind ganz unterschiedlich, ebenso die Beeinträchtigung der Funktionen und der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die große Mehrzahl der Betroffenen fand Wege zu einem aktiven Leben - notfalls mit Hilfsmitteln und Assistenz. Dank ihrer sprichwörtlichen Energie und ihres Lebensmutes können sie in der Welt der Gesunden bestehen. Viele erreichten Erstaunliches im Beruf und im öffentlichen Leben.

Wenige Jahre nach der akuten Erkrankung, nach Rekonvaleszenz und immer wieder hartem Training, galt ihr Zustand als stabil. Viele wurden Stöcke und Schienen, mache sogar Rollstuhl und Beatmungsgerät los. Dann aber begann sich das Blatt zu wenden. Nach 15 bis 20, vielleicht auch erst nach mehr als 30 Jahren traten wieder Probleme auf - manche altbekannt, aber inzwischen vergessen oder für die Betreffenden neu:

· Schmerzen in Muskeln und Gelenken

· Extreme Müdigkeit, rasche Erschöpfung bereits am Vormittag

· Neue oder zusätzliche Muskelschwächen

· Schlafstörungen

· Probleme beim Atmen und Schlucken

Zunehmend Aufwachprobleme aus der Vollnarkose, sofern bei Wahl und Dosierung der Narkosemittel die durchgemachte Polio nicht berücksichtigt wurde.

Ärzte wie auch die Umgebung reagierten vielfach ungläubig auf die Schilderung der Betroffenen, dass sich ihr Zustand verschlechtere. Zur früheren Erkrankung wollte man lange keine Verbindung sehen. Verständlich, dass es häufig zu Fehldiagnosen und einer Odyssee durch Arztpraxen kam.

Gewöhnlich lautete die Erklärung "Alterserscheinungen" oder "psychisch bedingt". Gewiss spielen früher und ausgeprägter bemerkbar. Aber erst in den letzten Jahren bahnten sich Verständnis und Wissen um die "Spätfolgen der Poliomyelitis" an, um die es sich nach klinisch gesicherten Polioerkrankung bei diesem wichtigsten Phänomen handelt.

"Spätfolgen" ist der Oberbegriff für die spezifischen chronischen Schädigungen durch paralytische Polio (mit Lähmungserscheinungen). Ursachen sind z. B. ständig wiederholte Belastungen, etwa der Handgelenke beim Stock- und Krückengebrauch oder handbetriebenem Rollstuhl mit der Folge "Karpaltunnelsyndrom". Kompensatorische und anomale Bewegungsabläufe können eine Fehlstellung bis zur Verschiebung im Gelenk bewirken und mit der Zeit zu massiven Knorpelschäden mit degenerativer Arthose führen. Häufig kommen Sehnenscheiden- und/oder Schleimbeutelentzündungen sowie schmerzhafte Muskelverspannungen ect. hinzu.

Eine Unterforderung einzelner Muskelgruppen verschlimmert bestehende Atrophien. Mit gezielter, nicht forcierter Gymnastik ist manches aufzuhalten, sogar zu bessern.

Überlastung im "Dauerbetrieb" vor allem der nach Schädigung in der Akutphase durch konsequentes Training wieder aufgebauten "Ersatzsysteme" für den Komplex Nerv-Muskelfaser ist jetzt gefährlich. Scheinbar erholte Muskeln geben langsam oder plötzlich ihren Dienst wieder auf. Hier könnte konsequente, aber vorsichtige Gymnastik noch helfen.

Stoffelwechselprozesse könnten eine Rolle spielen. Die in einigen Klinikzentren laufenden Studien lassen erkennen, dass auch multidisziplinär, mit Einschaltung auch von Neurologen und Internisten, vorzugehen ist. Das

"Post-Polio-Syndrom" (PPS)

ist eine Teilkategorie der Spätfolgen. Es wird als eine neurologische Störung mit vermehrter Schwäche geschädigter, aber auch Schwäche scheinbar nicht beeinträchtigter Muskeln definiert. Deshalb sind zur Diagnose zuallererst andere Erkrankungen auszuschließen. Hauptmerkmal des Komplexes von Symptomen sind neue Schwächen, ungewöhnliche Körpermüdigkeit und Muskelermüdung sowie Schmerzen. Die Folge ist Verlust an Ausdauer und Funktion.

Die Bezeichnung "Post-Polio-Syndrom (PPS)" verdrängt immer mehr den Begriff "Polio-bedingte progressive Muskelatrophie (PPMA)", wie in den 80iger Jahren die fortschreitende, therapeutisch nicht beeinflussbare neue Schwäche und/oder Atrophie genannt wurde. Klinische oder subklinische Zeichen für chronische partielle Denervation und Reinnervation lassen auf eine frühere paralytische Poliomyelitis-Erkrankung schließen. Zum Schutz vor Fehldeutungen ist jedoch die gründliche Anamnese, samt Periode der Stabilität dokumentiert, überaus wichtig.

Ein Sonderkapitel sind Lähmungsfolgen, wenn neben der Bein- auch die Rumpfmuskulatur betroffen wurde. Im Laufe der Zeit kommt es zu erheblicher Skelettverschiebung mit Beckenschiefstand und extremer Skoliose. Die zunehmenden Atemschwierigkeiten, an denen auch funktionsbeeinträchtigte Teile der Atemmuskulatur und des Zwerchfells beteiligt sind, werden hier und da als "Asthma" abgetan - mit verheerenden Folgen.

Die erwähnten sowie weitere, inzwischen neu definierte PPS-Probleme können einzeln oder auch in unterschiedlicher Kombination auftreten. Auch kann es sein, dass sie sich bisher nicht bemerkbar gemacht haben. Sind die Schwierigkeiten aber da, ist es gut, wenn der Betreffende um die mögliche Ursache weiß.

Eine Heilung gibt es derzeit nicht. Umso wichtiger ist es, den neuen Zustand in der gesamten Lebensweise zu berücksichtigen.

Das bedeutet:

· Aktivitäten, Anstrengungen und Belastungen (auch solche psychischer Natur) möglichst zurückzuschrauben

· Informationen einholen, am besten über die Selbsthilfegruppe, und Erfahrungen mit anderen Poliobetroffenen austauschen

· Eine gründliche allgemein-medizinische und neuro-muskuläre Untersuchung bei einem polio-erfahrenen Arzt mindestens einmal jährlich durchführen lassen

· Auf den Körper "hören", Überlastungs- und Schmerzsignale als Warnzeichen beachten. Ermüdung durch Anstrengung sollte nach 10 Minuten Pause überwunden sein. Sobald allgemeine Müdigkeit oder Erschöpfung auftritt, Pausen von 10 bis 30 Minuten einlegen.

· Übergewicht reduzieren bzw. vermeiden

· Rauchen aufgeben, wenig Alkoholkonsum

· Schmerzmittel, Antidepressiva, Narkotika meiden, mehr Hilfsmittel (Orthesen, Stöcke, Rollstuhl etc) auch im Haus benutzen.

· Familie, Personen im Umfeld, evtl. auch Angehörige von Heilberufen über die neuen Schwierigkeiten informieren, notfalls aufklären und an Experten verweisen

Verfasser: Wöbbeking/Sommer